Freitag, 18. Mai 2012

Unterwegs und eingetaucht


Jean-Jacques Rousseau; Discours
Classiques Larousse, Montrouge 1939
Walter Kappacher
Land der roten Steine

 „Everett setzte sich auf eine Felsplatte und überkreuzte seine Beine. Auf einmal streckte er einen Arm aus und sah zu mir herüber. Ich fühlte sogleich das Besondere dieses Panorama-Ausblicks. Das von Felsenschluchten durchzogene Land Of Standing Rocks lag vor uns. Von den teilweise tiefen Schluchten hätte ich ohne Everetts Hinweis gar nichts bemerkt, nur eine zerschrundene, wie schwebend wirkende Oberfläche des felsigen Plateaus, welches nicht wie die Umgebung rötlichbraun, sondern eher weißlich aussah.“ [S. 64]

Geste und Blickkontakt – und siehe, die Welt verwandelt sich vor unserem Auge.

Quelle: Hanser Verlag
Walter Kappacher schickt seinen empfindsamen, etwas altmodischen und mitunter verloren wirkenden Helden Michael Wessely zusammen mit dem Navajo Everett Kish auf die Reise ins Grand Canyon. Mir gefällt der leise und sorgfältig ausgearbeite Erzählton, und es ist nicht von ungefähr, dass der Österreicher Kappacher seinen Landsmann Hermann Broch zitiert, in dessen „Schlafwandler“ eben solchen Personen in die Seele gespäht wird und wo wir erleben, wie sie Wirklichkeit und eine tiefere Wahrheit, mit der sie verbunden sind und die nicht ganz von dieser Welt ist, in sich tragen und in der Welt austragen. Wie aus Kish Everett wird und aus Wessely Mike, so nähern wir uns auch zu einer Vertrautheit mit Kappachers Protagonisten und lernen dadurch, tiefer zu sehen.

Das Land der roten Steine führt in eine Urzeit zurück, und Strapazen und Ausgesetztheit beschwören schamanenhafte und urreligiöse Bezüge herauf. Auch dass der Roman in drei Teile unter lateinischen Überschriften aufgebaut ist, unterstreicht den ikonenhaften Charakter. Aber doch sind Pinkelpausen nötig, und beinahe kindliche Ängste vor schlangenhäutig anmutenden Wacholderrinden, und Verlassensängste, die tägliche Verpflegung aus den Plastikbehältern und Wasserkanistern, die diesen Roman sozusagen am Boden lassen.

 Die „Seitenflügel“, „Vita nuova“ und „Vita breve“, zeigen Wessely in seinem Zuhause: Gastein, Freunde, Angehörige, Beruf und Ruhestand – all das ist ein undeutliches Rauschen, auch beim Lesen braucht es ein Vor- und Zurückblättern, bis sich die einzelnen Statisten, Orte und Abläufe sortieren und man Bekanntschaft mit Wessely schließt und versteht, was ihn auf den Weg bringt und was er sucht.

Dann kommt der große fast tonlos sich entfaltende Mittelteil. Wessely, der sich zwischen „er“ und „ich“ verwischte, bekommt hier Klarheit als Erzähler in der ersten Person. Mit seinen Augen und Sinnen und Gedanken erleben wir die Reise. Anfangs war ich versucht, Bilder heranzuziehen – es geht ja so leicht mit dem Internet. Aber ich unterdrückte den Impuls und gab mich ganz der Beschreibung durch Kappacher/Wesseley hin, ein Weg, der sich lohnt. Alles atmet ruhig und die Zeit löst sich auf und wir umkreisen Landmarken und sehen mal von hier, mal von dort, mal von nah, mal von fern immerwährende Formationen: Chimney Rock, Teapot, Elaterite Butte, Lizard Rock, Dolls ...  - wie eine Litanei, und loten ihre Unendlichkeit aus.

Schumann, Piano Quintett Bernstein/Juilliard/Gould
Bei diesem Teil „De vita beata“ hatte ich den dritten Satz, Andante cantabile, von Robert Schumann im Ohr (Klavierquartett Op.47. Wir haben die Schallplatten-Ausgabe von 1968 unter Leonard Bernstein mit dem Juilliard Streicherquartett und mit Glenn Gould). Man kann sich aber auch einfach der rauschenden Stille hingeben und nur lesen und schauen, schauen und lesen. Ein gutes Buch!

angeführte / zitierte Bücher:
Jean Paul, Dr. Katzenbergers Badereise; Reclam UB 18; 5,80 € 
Hermann Broch, Die Verzauberung; Suhrkamp Tb 2365; 12,-- € 
Meister Eckhart , Mystische Schriften (Ü: G. Landauer); Insel Tb 1302; (vergriffen)
Rudolf Borchardt (Hrg.), Ewiger Vorrat deutscher Poesie; Klett Cotta; 22,95 €


Reclam
Suhrkamp
Suhrkamp/ Insel
Klett-Cotta

Copper Canyon Pr (vergriffen)
David Lee
So Quietly the Earth

"Do you think the rocks are listening to us?
I don't know.
Do rocks hear?
The ones that are alive do."

[...]

"Having only this remaining
as my strength
now I lay me down these words
washed in the dreamshadows
of hope, contradiction, and goodbye."

source: openpoetrybooks

PS: Im Gebirg


[…] „Er kennt zwar die Gegend nicht, aber Hemd und Hose sind geröllgrau, der Rucksack leicht, kein Gramm zuviel darin. An den Schuhen gibt es nichts auszusetzen. Nur etwas wenig Knöchelschutz vielleicht? Frisch eingekleidet für die Bergwelt. Alles paßt. In die Freiheit, in die Höhe, fort, fort in die schöne, steinige Einsamkeit, jaja, in die Menschenleere. Warum nicht?“ [ … ]

Edition Büchergilde Tolles Heft 35
Wie konnte ich vergessen, Brigitte Kronauer mit ihrer Erzählung „Im Gebirg“ in den Alpen-Kanon einzureihen! Dieses Alpen-Abenteuer findet sich gleich zu Beginn der Sammlung „Die Tricks der Diva“, das bei Reclam inzwischen in der Universalbibliothek für 3,-- erhältlich ist, aber da fehlen eben die Illustrationen, die mich an die Bilderwelt der Ashaninka in Peru erinnern.
Reclam UB 18334

Herbert kämpft sich unter Strapazen einen Weg durchs Gebirg, und bedrängt von körperlichen Schmerz und tückischem Gelände schwirrt es in seinen Gedanken. Daraus entsteht dann in ihm und um ihn herum eine magische Welt voller Biester und Schreckensgesichte.

Ich weiß aus Erfahrung, dass die Bergsteigerei verrückte Sachen mit unseren Sinnen anstellt. Brigitte Kronauer hat dies in Worte gesetzt, Gosia Machon meisterhaft ins Bild gerückt; und es ist ein Höllentrip.